Der Verein Erinnerungsorte Potsdamer Grenze e.V. engagiert sich für die Bewahrung und Vermittlung der Geschichte der deutschen Teilung in Potsdam. Er erforscht und dokumentiert die ehemaligen Grenzanlagen und die in diesen Zusammenhang gehörenden Bebauungen und Enteignungen, sammelt Zeitzeugnisse und macht die Vergangenheit durch Ausstellungen, Führungen und Bildungsprojekte erfahrbar. Ziel ist es, die Erinnerung an das Grenzregime und dessen Überwindung lebendig zu halten und historische Verantwortung zu übernehmen. Inzwischen ist es gelungen, das gesamte Gelände an der ehemaligen Grenzkontrollstelle Nedlitz vor der Zerstörung zu retten und unter Denkmalschutz stellen zu lassen und mit Projekten wie einem Geschichtspfad von der Glienicker Brücke entlang des Jungfernsees dazu beizutragen, dass die Orte der Teilung sichtbar bleiben und ihre Bedeutung im kollektiven Gedächtnis fortbestehen.
Vorstandsvorsitzender des Vereins und Projektleiter Jürgen Reiche beantwortet uns im Interview einige Fragen zum aktuellen Projekt “Schöne Aussichten”.
Was zeichnet euren Standort aus? Wie beeinflusst es eure Arbeit?
Ein großes Plus unseres Standortes am Bertiniufer und Jungfernsee ist, dass wir gar nicht erst nach einem Turm und „Schönen Aussichten“ suchen mussten , sondern hier beides schon haben: das Grundstück mit Grenzturm und angrenzendem Gebäude ist direkt am Wasser gelegen. Hier fahren im Minutentakt Segelboote, Dampfer und auch große Frachtschiffe vorbei und von hier aus hat man freie Sicht weit nach Westen und nach Osten. Im Wasser ziehen Enten und Haubentaucher ihre Bahnen und auf dem Nachbargrundstück trocknen Kormorane auf Holzpfosten ihre Flügel. Eine Idylle! Für die Kinder ist das Urlaub vom Alltag im Hort. Aber sie nehmen auch noch etwas anderes mit, wenn wir das Areal erkunden. Neugier wecken, sehen lernen und Fragen stellen – das sind erste Schritte in Richtung kultureller Bildung! Die zu einer Museumswerkstatt umfunktionierte „Dieselhalle“ nahe beim Turm ist nicht besonders groß, aber sehr einladend, hell und freundlich. Die Kinder können hier ungestört kreativ sein, wir reden , basteln und gestalten. Wer eine Pause braucht, kann auf die Wiese zum Feuer gehen oder auf den Turm steigen und vorbeiziehende Vögel oder Schiffe beobachten.
Welchen Stellenwert hat die kulturelle Bildung in eurer Arbeit?
Politische Bildung und kulturelle Bildung sind für mich untrennbar miteinander verbunden. Ich bin überzeugt davon, dass wir bereits im Grundschulalter damit anfangen müssen Jungen und Mädchen an kulturelle Bildung heranzuführen, und dazu bietet „Museum macht stark“ alle Möglichkeiten.
Ihr setzt ein Projekt im Rahmen von “Museum macht stark” um. Wen erreicht ihr? Was ist das Besondere an der Kooperation?
Im Zentrum unserer Arbeit steht die Vermittlung von kultureller Bildung. Das Gesicht und das Leben in einer Stadt ist vielschichtig. Bis auf wenige Ausnahmen kennen die Kinder aus der Potsdamer Waldstadt die vielen Facetten ihrer Stadt aber nur sehr einseitig, eingeschränkt oder überhaupt nicht. Gerade diese Stadt aber eignet sich dazu doch einmal genauer hinzusehen. Sie ist relativ jung, schnell aus dem Nichts gewachsen und sie zeigt ein Gesicht, das unter vielerlei Einfluss nachhaltig geprägt wurde. Auch Vielfalt kann sich auszahlen. Das betrifft neben Sprache, Lebensmittel und Rituale nahezu alle Bereiche des kulturellen und öffentlichen Lebens: Potsdam war nicht nur für viele Künstler und Denker Inbegriff von Inspiration und Schönheit – Beispiele aus den Niederlanden, England und Italien gaben Impulse für Bauherren, Architekten und Landschaftsplaner und waren Vorbilder zum Bau von Schlössern und Gärten.
Hiervon ausgehend und mit viel Geschichte und Geschichten im Gepäck haben wir mit den Kindern Ausflüge zu „Schönen Aussichten“ unternommen und bewusst auch exotische Orte, wie die Pfaueninsel und die Meierei besucht, die schon im 19. Jahrhundert ein beliebtes Ausflugslokal war mit Turm, Wasserwerk und Muschelgrotte. Von den zwei Türmen des Belvedere konnten wir bis nach Berlin hinüberschauen. Das Schloss hat auch ein maurisches Zimmer, dessen Mosaike wir abgemalt haben. Kennt Ihr Pegasus oder den Tempel der Pomona? Der Besuch im Palazzo (heute Museum) Barberini gehörte auch zum Programm. Hier haben wir uns künstlerisch inspirieren lassen.
Wie ist die Idee zum Projekt entstanden?
Der Grenzturm am Jungfernsee ist ein ehemaliger DDR – Kontrollturm der Grenzübergangsstelle Nedlitz (GÜST Nedlitz) und heute Sitz unseres Vereins „Erinnerungsorte Potsdamer Grenze e.V.“. Wir haben uns schon vor längerer Zeit überlegt, dass wir für unsere Besucher:innen oder für vorbeikommende Menschen auf dem Rad oder zu Fuß, vor allem aber junge Menschen, den Turm einmal selbst sprechen und erzählen lassen. „ Hallo ,bleibt doch mal stehen , hört mir bitte mal zu! …Ich bin der Turm….“. Zur Zeit feilen wir noch an der technischen Umsetzung und am Zusammenspiel mit der Denkmalpflege. Zentral ist für uns vor allem auch die Erschließung gerade junger Zielgruppen, da kommt die Unterstützung durch „Kultur macht stark“ gerade recht.
Welche Rolle können aus Deiner Sicht Erinnerungsorte spielen, um die Bildungslandschaft positiv weiterzuentwickeln?
Brauchen wir überhaupt Erinnerung? Ich denke ja, unbedingt. Erinnerungen sind es nun mal, die unser Leben und unsere Persönlichkeit begleiten. Sie formen die Herausbildung eines jeden Individuums, und sie prägen den Einzelnen wie das Kollektiv, zum Beispiel die Bewohner und Bewohnerinnen einer Stadt oder einer Region oder eines Landes. Auch Kollektive haben ein gemeinsames Erinnern, ein kollektives Gedächtnis.
Die Vergangenheit lebt durch die Erinnerung und sie stirbt durch das Vergessen – natürlich gibt es verschiedene Wege des Erinnern. Nach zahlreichen Ausstellungen an verschiedenen Orten, wie u.a. dem Checkpoint Charly, dem Tränenpalast in Berlin oder dem Bunker der Bundesregierung in Ahrweiler bin ich zu der Überzeugung gelangt, das Erinnerungsorte gerade für die kulturelle und politische Bildung unverzichtbar sind. Schließlich sind Erinnerungsorte „Ankerorte“ an denen sich Geschichte und Geschichten wunderbar festmachen oder „verankern“ lassen. Durch diese Hinwendung zu Zeitzeugenschaften ist Geschichte weniger abstrakt und theoretisch, stattdessen wird sie greifbar gemacht und lebendig. Auch Potsdam ist voll von solchen Ankerorten.
Wie sieht ein (intensiver) Projekttag aus?
Jeder Tag startet mit der Bahn- und Busfahrt von der Waldstadt zum Jungfernsee. Nach dem Frühstück in der „Dieselhalle“ begeben wir uns auf Wanderung zur Meierei, zum Museum Barberini, zur Pfaueninsel und zum Belvedere. An allen Orten warten Besucherbegleiterinnen auf uns, die sich auf Gespräche und einen Rundgang mit unseren Kindern vorbereitet haben. Die Kinder erleben nicht nur wunderbare Aussichten, wie die von zwei Türmen des Belvedere mit Blick bis nach Berlin, sondern auch unerwartete Einblicke in ein maurisches Zimmer mit wunderbaren bunten Fliesen, eine Insel mit Pfauen und Vogelvolieren, Kinderangebote im Museum und der Werkstatt Barberini. Nach dem Mittagessen halten die Kinder ihre Erlebnisse in ihren Reisetagebüchern fest. Es steht noch die Gestaltung eines Bilderbuchs zum Thema „Schöne Aussichten“an. Vor der „Dieselhalle“, unserer museumspädagogischen Werkstatt, brennt immer ein Feuer. Über der Feuerschale grillen wir Würstchen und Marshmallows. Wer sich austoben möchte, geht Reisig und Äste für das Feuers sammeln, kann auf der Wiese toben oder auf den Grenzturm klettern.